. Was ist Heimat? Ein Ort, ein Gefühl, eine Erinnerung? Oder vielleicht doch da, »wo das Herz zu Hause ist?« Manchmal ist Heimat ganz pragmatisch, wie es ein Schüler der Gesamtschule Gießen-Ost ausdrückte: »Ich bin ein Fan von Eintracht Frankfurt. Ich trinke Apfelwein und esse Handkäs.« Für andere wiederum ist Heimat eine vielschichtige Erfahrung, die sich verändert und anpasst. »Ich dachte immer, es gibt nur einen Ort, der mein Zuhause sein kann«, lautete eine der nachdenklichen Stimmen.
Im Rahmen einer Lesung lasen Schüler der Gesamtschule Gießen-Ost (GGO) und der Clemens-Brentano-Europaschule Lollar (CBES) am Freitagabend ihre Texte zum Thema »Heimat«. Die Oberstufenschüler der Ostschule hinterfragten literarisch und analytisch, ob »Heimat« ein verstaubter Begriff für junge Menschen sei - ließen dabei auch persönliche Erfahrungen einfließen.
Sotirios Gaitatzis beschrieb, wie er sich zwischen zwei Heimaten - Griechenland, dem Herkunftsland seiner Großeltern, und Deutschland, seinem Geburtsland - hin- und hergerissen fühlt. »Es ist nicht 50-50, sondern 100-100«, erklärte er und betonte, dass es kein Widerspruch sei, sich beiden Orten gleichermaßen verbunden zu fühlen. Catrina Kersting erzählte, wie aus der »Anekdote auf Familienfeiern« ein echtes Gefühl der Verbundenheit wurde, als sie im Rahmen eines Schüleraustauschs Lettland, die Heimat ihrer Großmutter, besuchte. Wo Speisekarten zwar nur durch den Google-Übersetzer entschlüsselt werden konnten, Gerichte aber dennoch genauso schmeckten wie bei ihrer Oma und vertraute Melodien laut in Stadien gespielt wurden, habe sie sich keinen Tag wirklich fremd gefühlt.
Karl Lanz hinterfragte, ob Heimat für die Generation Z noch relevant sei, und stellte fest, dass sie in einer globalisierten Welt eher ein flexibles Gefühl als ein fester Ort sei und betonte, dass vor allem soziale Verbindungen und gemeinsame Erinnerungen das Heimatgefühl prägten. Mathilda Haas betrachtete den Begriff aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive und kritisierte die politische Instrumentalisierung. Für sie sei Heimat »nicht nur der Ort, an dem die ersten Kindheitserinnerungen entstanden sind oder man zahlreiche Traditionen weiterführt«, sondern könne »überall dort entstehen, wo wir offen aufeinander zugehen und uns mit Respekt und Toleranz begegnen«.
Neuanfang in der Fremde
Während die Texte der Ostschüler oft literarisch reflektiert und teils philosophisch klangen, lasen Ros Ibrahim aus Syrien, Sascha Suiarko und Kateryna Klymenko aus der Ukraine von der CBES ihre ganz persönlichen Geschichten über Flucht, Verlust und dem Versuch, in Deutschland eine neue Heimat zu finden. Ihre Erlebnisse und die weiterer Jugendlicher sind in dem Buch »Unsere Geschichten - Die Flucht in eine fremde Heimat« nachzulesen, das 2024 im Büchner-Verlag erschienen ist. Sultana Barakzai, Lehrerin an der CBES, unterstützte die jungen Autoren bei diesem Projekt.
»Als ich damals meine Heimat verlassen habe, habe ich nicht nur einen kleinen Koffer mitgenommen, sondern auch meine Erinnerungen, Hoffnungen und Ängste«, schilderte Ros. Die 16-Jährige erzählte von ihrer Flucht aus Syrien und dem langen Prozess, Deutschland als neue Heimat anzunehmen. »Wie viele Geschichten müssen wir noch hören, damit wir den Rassismus endlich hinter uns lassen?«, fragte sie das Publikum. Sascha erinnert sich an lange Schlangen mit vollgepackten Fahrzeugen vor der polnischen Grenze. »Das ganze Leben in ein Auto gepackt.« Seit seiner Flucht im Februar 2022 hat der 17-Jährige eine ungewohnte emotionale Distanz zu seinem Geburtsland aufgebaut. »Es ist seltsam, dass ich mein Land nicht sehr vermisse. Ich vermisse meine Freunde und Verwandten, aber nicht den Ort selbst.« In der Zukunft hat der Schüler Großes vor: »Vielleicht werde ich eines Tages Präsident der Ukraine. Ehrgeizig? Wahrscheinlich. Aber merken Sie sich meinen Namen für alle Fälle.« Kateryna, die im April 2022 mit ihrer Mutter und Oma nach Deutschland floh, sprach offen über ihren Schmerz. Wenn es damals nach ihr gegangen wäre, wäre sie in der Ukraine geblieben. »Mit 15 für eine unbestimmte Zeit das Haus zu verlassen, wo man aufgewachsen ist, die Stadt, wo jeder Ort mit Erinnerungen gefüllt ist - da verliert man einen Teil der Identität, einen Teil der Seele.« Viele ihrer Freunde und Verwandten seien noch immer in der Ukraine und nicht in Sicherheit. Bis heute falle es ihr schwer, Deutschland als neue Heimat zu akzeptieren. Trotzdem will die 18-Jährige ihre Stimme nutzen: »Meine Heimat ist ein Ort, für den ich immer kämpfen werde. Und deshalb bin ich hier, um mehr über meine Heimat zu erzählen und mit Menschen zu sprechen.«
Die Lesung endete mit langanhaltendem Applaus. Sandra Sudler, Deutschlehrerin an der GGO, fand zum Abschluss bewegende Worte: »Junge Menschen in dem Alter sollten Unfug machen, sich über ihre Eltern ärgern und Fehler machen - aber nicht dankbar für politische Unterstützung sein müssen.« Stattdessen sei es an den Erwachsenen, dankbar zu sein: »Ihr habt uns heute einen authentischen Blick in eure Welt ermöglicht. Ihr macht uns Mut, ihr gebt uns Hoffnung, dass ein Wandel möglich ist.«