Mit dem Satz »Kind, nimm keine Drogen« können Eltern ihren Nachwuchs vermutlich nur schwer davon überzeugen, die Finger von Betäubungsmitteln zu lassen. Nachhaltig beeindruckender hätte der Besuch des Prozesses am Landgericht Gießen sein können, der am Mittwoch nach zwei Verhandlungstagen zu Ende gegangen ist. Zwei junge Männer, 23 und 25 Jahre alt, hatten im Herbst 2023 einen Imbiss an der Grünberger Straße überfallen, um Geld für Drogen zu erbeuten. Der Konsumdruck war so hoch, dass sie »sehenden Auges ins Gefängnis liefen«, als sie die Tat dilettantisch ausführten, wie Oberstaatsanwalt Frank Späth betonte. Dass sie in so jungen Jahren bereits eine Drogenkarriere wie aus dem Bilderbuch hinter sich haben und zuletzt in einer Obdachlosenunterkunft in Gießen lebten, verleitete den Hauptangeklagten dazu, mit gerade einmal 25 Jahren zu sagen: »Ich habe mein Leben verschissen.«
Aber die Angeklagten haben noch eine Chance - eine »letzte«, wie der psychiatrische Sachverständige Dr. Jens Ulferts in seinem Gutachten betonte: Sie müssen von den Drogen wegkommen. Deshalb verurteilte sie die sechste Strafkammer unter dem Vorsitz des ruhigen Richters Dr. Oliver Buckolt wegen des gemeinschaftlichen versuchten schweren Raubs in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung. Der 25 Jahre alte Hauptangeklagte erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten. Das Gericht ordnete seine Einweisung in eine Entziehungsklinik ein. Der 23 Jahre alte »Mitläufer«, wie ihn sein Anwalt Philipp Kleiner bezeichnete, erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren. Auch bei ihm sind sich die Verfahrensbeteiligten sicher, dass er clean werden muss, wenn er nicht bald wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten will.
Rechtsfrieden hergestellt
Bei einem Gerichtsverfahren geht es auch darum, Rechtsfrieden herzustellen. Ziel ist es, dass mit dem Abschluss des Prozesses der Gerechtigkeit für alle Beteiligten genüge getan wird. Das klappt nicht immer. Aber am Mittwoch bekam man nach dem Urteilsspruch von Richter Buckolt ein Gespür dafür, wie sich dieser Rechtsfrieden anfühlen kann. In dem am 19. Februar eröffneten Prozess bekamen die Geschädigten Gehör, konnten ihre Sicht auf den Überfall und die Folgen schildern. Denn zwei von den drei Betroffenen haben den wenige Minuten dauernden Überfall bis heute nicht so einfach weggesteckt. Und am zweiten Verhandlungstag setzten sich Kammer, Staatsanwaltschaft und die beiden Verteidiger seriös mit der Biografie der beiden Angeklagten auseinander.
Die Tat haben die beiden Männer am ersten Verhandlungstag gestanden. Maskiert waren sie am 12. September 2023 gegen 18.55 Uhr in einen Imbiss an der Grünberger Straße gestürmt und hatten dem 43-jährigen Koch Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Während eine 55 Jahre alte Aushilfe aus dem Fenster springen und um Hilfe rufen konnte, hielt eine 66-jährige Frau die Kasse fest, auf die es die Räuber abgesehen hatten. Ein störrisches Stromkabel tat sein Übriges, um aus einem erfolgreichen Raub einen Raubversuch zu machen. Dass die Polizei zufällig vorbeikam und die beiden Männer auf frischer Tat ertappte, passte da ins Bild. Für den Überfall hatten sich die Angeklagten bei den Betroffenen entschuldigt; der psychiatrische Gutachter Ulferts konnte eine verminderte Steuerungsfähigkeit bei der Tat wegen des Drogenkonsums nicht ausschließen - was sich strafmildernd für die Angeklagten ausgewirkt hat.
Die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Verfahrensbeteiligten mit den Biografien der Angeklagten auseinandersetzten, ist vorbildlich. Denn wenn man sich nur die Aktenlage anschaut, dann liest sich das beim Hauptangeklagten wie ein Verbrecherleben mit einer Vorgeschichte aus Raub und Drohungen mit Messer und Schreckschusspistole. »Ist da Hopfen und Malz verloren?«, fragte Oberstaatsanwalt Späth rhetorisch in seinem Plädoyer, um gleich danach zu betonen: »Nein, wir haben hier einen anderen Menschen kennengelernt.« Einen, der als Kind einer alkoholabhängigen Mutter auf die Welt kam und ohne Vater aufwuchs. Der mit zwölf Jahren seine erste Alkoholvergiftung hatte, mit 13 Jahren das erste Mal Marihuana nahm, Amphetamine, Kokain, LSD, Pilze und Ecstasy. Seit dem 14. Lebensjahr kommen Opiate dazu sowie auch Tabletten. Seitdem er 16 Jahre alt ist, raucht und spritzt er Heroin. Mehrmals versuchte er eine Therapie, brach sie aber ab. Dass er trotzdem einen qualifizierten Hauptschulabschluss mit einem recht guten Notendurchschnitt geschafft hat, grenzt an ein Wunder. Und angesichts dieser Drogenkarriere ist es kein Wunder, dass Oberstaatsanwalt Späth und Verteidiger Kristian Agsten neben der Freiheitsstrafe für den Paragrafen 64 plädieren, also die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.
Angst vor dem Entzug
Der wäre auch beim 23 Jahre alten Angeklagten sinnvoll, wie Späth betonte. Mit 13 Jahren fing er mit Alkohol an, es folgten Ecstasy und Speed. Seit seinem 17. Lebensjahr nimmt er Opiate. Seinen Hauptschulabschluss schaffte er genauso wie eine Ausbildung. Das war’s dann aber - wegen der Drogen. Zusätzlich konsumierte er einen »Tablettencocktail, ohne zu wissen, was er da alles nimmt«, wie sein Verteidiger Kleiner sagt.
Das Problem: Der Gießener traut sich den Entzug von dem Ersatzstoff nicht zu, den er im Rahmen seiner Substitutionstherapie nimmt. Dieser hat einen Wirkstoffgehalt, der zigfach höher ist als bei einem Tumorpatienten. Wie Ulferts betont, würde der Entzug nicht wie bei Heroin kurz und schmerzhaft sein, sondern lang und schmerzhaft, Die Angst davor formuliert Kleiner für seinen Mandanten wiederholt, und auch die übrigen Verfahrensbeteiligten kaufen dem 23-Jährigen diese Sorge ab. Seine Hoffnung: Nach Paragraf 35 des Betäubungsmittelgesetzes kann er eine Therapie auch ohne Entzug vom Substitutionsmittel machen. Dass ist zwar laut Späth kein Allheilmittel. Aber wegen des zweifelhaften Therapieerfolgs nach Paragraf 64 vielleicht doch die letzte Chance für den 23-Jährigen. Und so formulierte Richter Buckolt in seiner Urteilsbegründung einen Wunsch: »Wir wollen Sie hier nicht wiedersehen.«