Das Verfahren um einen lebensgefährdenden Messerangriff eines Eritreers auf seinen Landsmann im Januar 2023 war von Anfang an aufgeladen. Vor allem wegen der damit nicht in Zusammenhang stehenden gewalttätigen Auseinandersetzungen am Rande von zwei eritreischen Veranstaltungen in den vergangenen zwei Jahren in Gießen. Wegen der Demos von Gegnern und Befürwortern des Regimes sowie wegen der politischen und gesellschaftlichen Debatte über die Vorfälle. Doch vor Gericht heißt es nicht umsonst, dass nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person geurteilt werden soll. Der Prozess vor der fünften Strafkammer am Landgericht Gießen war ein Paradebeispiel dafür, wie ein solch aufgeladenes Verfahren in einem Rechtsstaat, der seinem Namen gerecht wird, seriös, sorgfältig und transparent abzulaufen hat. Nach Ansicht der Kammer unter dem Vorsitz von Richterin Regine Enders-Kunze ist der 31 Jahre alte Angeklagte schuldig der gefährlichen Körperverletzung. Sie verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten - und folgte damit dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft.
Der Strafrahmen für ein solches Delikt liegt zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Bei der Anklageverlesung durch Staatsanwalt Friedemann Vorländer stand für den Angeklagten noch Lebenslänglich im Raum. Denn er hatte ihm anfangs einen versuchten Mord aus Hass und politischen Motiven vorgeworfen. Richterin Enders-Kunze betonte in ihrer Urteilsbegründung jedoch, dass sich zentrale Punkte des Ermittlungsverfahrens und der Anklage nicht erwiesen hätten: das politische Motiv und angeblich gefallene Sätze des Angeklagten, die darauf hindeuten könnten, dass dieser seinen 28 Jahre alten Landsmann habe töten wollen.
Für die Kammer ist klar, dass der Angeklagte seinen späteren Kontrahenten vor dem 2. Januar 2023 gar nicht kannte und auch bei dem Messerangriff einen Tag später nicht wissen konnte, welcher Ethnie und Religion dieser angehörte. Dafür kannte der im Verfahren als Nebenkläger auftretende 28 Jahre alte Eritreer den Angeklagten aus TikTok-Videos. Dort agitierte dieser vor Tausenden Followern gegen das eritreische Regime. Und wegen der Videos wollte er nach Ansicht des Gerichts seinen Landsmann auch am 2. Januar 2023 in einem kleinen Friseursalon an der unteren Bahnhofstraße nicht bedienen. Stattdessen verwies der dort als Praktikant arbeitende Mann den Angeklagten des Ladens - ohne Begründung.
Einen Tag später trafen die beiden Männer kurz vor Mitternacht in einem Döner-Imbiss an der Bahnhofstraße wieder aufeinander. »Dann nahm das verhängnisvolle Geschehen seinen Lauf, das beinahe tödlich endete, weil zwei Männer auf ihrem Recht beharrten«, fasste Enders-Kunze treffend zusammen. Der eine war sauer wegen des Rausschmisses, der andere wollte diesen partout nicht erklären.
Keine Kontrolle bei Messereinsatz
Der Streit begann im Imbiss verbal, doch dann folgte nach Auffassung der Kammer der erste Schlagversuch durch den Nebenkläger. Eine Kamera hatte dies festgehalten. So war die Aussage des 28-Jährigen widerlegt, er habe sich zuerst gegen den Angeklagten gewehrt. Mit einem zweiten Schlag traf der Nebenkläger die Nase seines 31-jährigen Kontrahenten. Begleiter konnten die Männer trennen, der Angeklagte verließ den Döner-Laden.
50 Sekunden später folgte der Nebenkläger, obwohl ein Zeuge noch versuchte, ihn daran zu hindern. Und dann ging es mit den Beleidigungen und der Rangelei von vorne los. Nach Ansicht der Kammer trat nun der Angeklagte deutlich aggressiver auf und zog ein Klappmesser. Der Nebenkläger habe nach übereinstimmenden Zeugenaussagen sofort eine abwehrende Haltung eingenommen, die Hände gehoben und Abstand zwischen ihm und seinem Landsmann hergestellt. Dies widerspreche auch den Angaben des 31-Jährigen, er habe in Notwehr gehandelt, sagte Enders-Kunze. Aus diesem Grund hatten seine Verteidiger Alexander Hauer und Frank Richtberg auch auf Freispruch plädiert.
Der Angeklagte habe trotz der Passivität des Nebenklägers zugestochen, mindestens drei Mal. Dabei sei er alkoholbedingt (1,77 Promille) zwar enthemmt, aber nicht seiner Steuerungsfähigkeit beraubt gewesen »Der Grund war, dass er als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgehen wollte.« Das Gericht erkennt jedoch keine Tötungsabsicht des Angeklagten; es sei ein unglücklicher Zufall gewesen, dass er die Oberschenkelarterie an der linken Leiste des 28-Jährigen zu 80 Prozent durchtrennt hatte. Ein Rechtsmediziner hatte. Hätte der Angreifer wenige Zentimeter daneben zugestochen, wäre vielleicht nicht einmal ein Krankenhausaufenthalt nötig gewesen. So jedoch überlebte der Nebenkläger nur, weil medizinisch vorgebildete Ersthelfer sofort reagierten, der Rettungswagen schnell am Tatort und der Weg ins Krankenhaus kurz war,.
Richterin Enders-Kunze nutzte die Urteilsbegründung, um die Gefährlichkeit eines Messereinsatzes zu betonen. »Es ergibt keinen Sinn, damit herumzulaufen.« Komme es einmal zum Einsatz, könne die Situation schnell außer Kontrolle geraten. »Wenn der Angeklagte das Messer nicht dabei gehabt hätte, wäre die Sache nach ein paar Faustschlägen beendet gewesen.«
Info: Wohl keine Revision
Werden die Verteidiger Alexander Hauer und Frank Richtberg das Urteil anfechten? Wie die Anwälte mitteilen, gehe nach Rücksprache mit ihrem Mandanten die Tendenz in die Richtung, das Urteil zu akzeptieren.