01. März 2024, 19:11 Uhr

Urteil im Landgerichtsprozess

Messerattacke in Bahnhofstraße Gießen: Keine Notwehr

Die Schwurgerichtskammer des Gießener Landgerichts verurteilt 31-jährigen Eritreer wegen gefährlicher Körperverletzung zu mehrjähriger Haftstrafe. Die Tat sei nicht politisch motiviert gewesen.
01. März 2024, 19:11 Uhr
SOW
Eine Messerattacke mit schweren Folgen bedeutet für den Angeklagten eine lange Haftstrafe. Foto: Schwaeppe

. Ein 31-Jähriger wird die nächste Zeit weiterhin im Gefängnis verbringen. Die Schwurgerichtskammer des Landgerichtes Gießen verurteilte den Eritreer zu einer Haftstrafe von vier Jahren und elf Monaten. Die Kammer sah es als erwiesen an, dass der Mann in der Nacht des 3. Januar 2023 in der Gießener Bahnhofstraße einen rund vier Jahre jüngeren Landsmann mit einem Messer lebensbedrohlich verletzte und sich damit der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht hat. Das Gericht folgte damit dem Antrag von Staatsanwalt Friedemann Vorländer.

Kein Tötungsvorsatz nachweisbar

Einen versuchten Mord, wie es noch in der Anklageschrift niedergelegt war, vermochte die Kammer unter Vorsitz von Regine Enders-Kunze nicht zu erkennen, weil kein Tötungsvorsatz bestanden habe. »Das Tatgeschehen hatte auch keinen politischen Hintergrund, wie zunächst angenommen«, sagte Enders-Kunze in der Urteilsbegründung.

Der Angeklagte und der Nebenkläger gehören zwei unterschiedlichen eritreischen Volksgruppen an. Nachweisbar ist, dass er Angeklagte sich auf Social-Media-Plattformen politisch äußert. »Allerdings sind dies nur Äußerungen gegen die Regierung in Eritrea, nicht gegen bestimmte Volksgruppen oder Religionen«, so die Vorsitzende.

Die beiden Männer seien sich am Tag vor der Tat erstmals persönlich im Friseursalon begegnet, in dem der Nebenkläger als Praktikant gearbeitet habe. Ihm seien die regierungskritischen Videos des 31-Jährigen bekannt gewesen. »Er hat sich davon angegriffen gefühlt und wollte den Angeklagten nicht bedienen«, rekapituliert Enders-Kunze. Es kam zum Rausschmiss des Angeklagten aus dem Laden. In der folgenden Nacht habe man sich dann zufällig in einem Döner-Laden in der Bahnhofstraße wiedergetroffen, was zu »einem verhängnisvollen Geschehen« geführt habe.

Beide Männer gerieten in Streit ob des Rausschmisses tags zuvor. Es kam schnell zu Handgreiflichkeiten noch im Laden, bei denen der Angeklagte einen Schlag auf die Nase abbekommen habe. »Der Angeklagte war es auch, der zuerst den Laden verließ«, stellte Enders-Kunze klar. In dem Plädoyer der Verteidigung hatte Rechtsanwalt Frank Richtberg fälschlicherweise davon gesprochen, dass der Nebenkläger zuerst den Döner-Imbiss verlassen und dann draußen auf den Angeklagten »gewartet« habe.

Draußen seien beide Kontrahenten wieder aufeinander losgegangen. Nachdem beide kurzzeitig von ihren Begleitern voneinander getrennt wurden, habe sich der Angeklagte losgerissen und sei »deutlich aggressiver aufgetreten« als das spätere Opfer.

Opfer hat mit viel Glück überlebt

Eine Notwehr-Situation, wie von der Verteidigung des 31-Jährigen im Plädoyer vorgebracht, habe hingegen nicht bestanden. Denn die entscheidenden Momente der Auseinandersetzung seien von mehreren unbeteiligten Zeugen beobachtet worden, die unisono anderes beschrieben.

Alle hätten beobachtet, dass der Nebenkläger beschwichtigend und deeskalierend die Hände gehoben hatte - und zwar in dem Moment, als der Angeklagte das Messer zückte. »Damit hatte der Nebenkläger eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass die Angriffssituation seinerseits beendet ist«, führte Enders-Kunze aus.

Es sei erkennbar kein »gleichwertiges Gegeneinander« mehr gewesen, sondern man habe in dieser entscheidenden Situation den Nebenkläger in einer Opferrolle gesehen. Hier greife also der Notwehr-Paragraf aus Sicht der Kammer nicht mehr, denn ein sogenannter rechtswidriger Angriff war in diesem Moment nicht mehr gegeben.

Und dennoch habe der Angeklagte drei bis fünfmal auf den Nebenkläger eingestochen. Der Angeklagte habe als Sieger aus dem Streit herausgehen wollen, um den Konflikt ein für alle mal für sich zu klären, meinte das Gericht.

Drei Messerstiche trafen das Opfer: im Rücken, am Oberschenkel und in der linken Leiste. Dabei habe der Angeklagte die große Oberschenkelarterie des Nebenklägers zu 80 Prozent durchtrennt. »Eine lebensbedrohende Verletzung«, betonte Enders-Kunze. Nur durch glückliche Umstände - etwa in Erster Hilfe erfahrene Zeugen vor Ort, dem schnellen Eintreffen des Rettungsdienstes und dem kurzen Weg in die Notaufnahme des Klinikums - habe das Leben des Nebenklägers gerettet werden können.

»Wir glauben nicht, dass der Angeklagte den Nebenkläger gezielt töten wollte und wir denken auch nicht, dass er ihn so schwer habe verletzen wollen«, sagte die Richterin. Aber man müsse sich die Frage stellen, ob es überhaupt eine gute Idee sei, ein Messer bei sich zu führen. Bei so einem dynamischen Geschehen habe man die Situation schnell nicht mehr im Griff und nur durch mehrere glückliche Umstände sei der Nebenkläger nicht verblutet. Weiterhin erklärte die Vorsitzende Richterin, dass man der Einlassung des Angeklagten, er habe aus »Angst und Panik« zugestochen, keinen Glauben schenke. Auch dies sei durch zahlreiche Zeugenaussagen belegt. »Alle beschrieben, dass Sie sich nach der Tat, wenige Sekunden später, ganz ruhig vom Ort des Geschehens entfernt haben. Wer sich noch kurz zuvor in Todesangst befunden haben soll, geht nicht kurze Zeit später ruhig weg und wischt noch das Messer ab.« Das Gericht wertete diese Aussage als Schutzbehauptung des 31-Jährigen. Zudem sei der Angeklagte trotz eines angenommenen Alkoholpegels von 1,77 Promille voll schuldfähig.

Zu seinen Gunsten wertete das Gericht, dass er nicht einschlägig vorbestraft und auch von dem Nebenkläger zuvor provoziert worden sei. Auch habe sich der Angeklagte im Laufe des Prozesses entschuldigt und Schmerzensgeld gezahlt. Allerdings sei der Nebenkläger immer noch psychisch und körperlich beeinträchtigt. »Es bestand konkrete Lebensgefahr für ihn und die Verletzungen waren erheblich, da gibt es nichts weiter zu sagen.«



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