. Wir leben in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft. Das Smartphone haben wir mittlerweile so gut wie überall und jederzeit zur Hand - viele ergänzen das Gerät inzwischen sogar mit einer Smartwatch. Warum diese Entwicklung nicht auch für die Medizin nutzen? So oder so ähnlich könnte den Entwicklern der erste Einfall für das Projekt »Neuro Health Innovation« gekommen sein. Hinter diesem futuristischen Namen verbirgt sich eine Ausgründung der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM), die eine App zur kontinuierlichen Überwachung der Parkinson-Krankheit programmiert. Doch hört man der Vision der Entwickler und ihrer Betreuer etwas länger zu, erschließt sich erst das wahre Potenzial hinter der Idee.
Ein innovatives Tagebuch
»Wenn man es mal herunterbricht, ist es ein innovatives Tagebuch, das Dinge aufzeichnet.« So umschreibt Prof. Volker Groß die ParDi-App, das Programm, das eine Gruppe junger Forschender unter seiner und der Betreuung von Prof. Keywan Sohrabi konzipiert hat. Die Funktionsweise ist dabei ganz einfach. Parkinson-Patienten können verschiedene, einfache Übungen zur Symptomerkennung, wie sie auch beim routinemäßigen Arztbesuch praktiziert werden, ganz bequem und täglich von zu Hause aus erledigen. Dazu gehören etwa das Fingertapping, das Erkennen des charakteristischen Ruhe- und Haltetremors sowie die Analyse einer Handdrehung. Die Smartphone-Kamera erkennt automatisch, ob und wie die Tests durchgeführt werden, die Smartwatch misst das durch die Erkrankung verursachte Zittern. Auch die Beantwortung von Fragebögen ist möglich. So kann die Entwicklung der degenerativen Nervenkrankheit akribisch beobachtet, die Medikamentendosis optimal berechnet werden und der zuständige Arzt ein fundierteres Urteil fällen.
In den Testungen gehe es nicht um eine Bewertung oder ein möglichst gutes Abschneiden, sondern vielmehr darum, dass die Patienten den Verlauf ihrer Krankheit ehrlich und sinnvoll protokollieren. »Sie sollen motiviert werden, die Tests zu machen, nicht sich selbst zu betrügen«, erklärt Groß das Konzept.
»Der Patient hat jederzeit die Hoheit über die Daten«, versichert Mitgründer Maurice Kontz, der gerade an seiner Masterthesis im Bereich Digitale Medizin schreibt, und kommt damit sicherlich einigen Befürchtungen im modernen Datenzeitalter zuvor. »Wir wollen nicht alle überwachen, aber wir wollen mit den Infos den Menschen helfen.« Daher ist den Entwicklern auch eine offizielle Zertifizierung ihrer App als Gesundheitsprodukt mit hohen Standards wichtig, auf die sie hinarbeiten.
Gefördert wird das Unterfangen bis jetzt vom Hessischen Digitalministerium im Rahmen des Projekts »Parkinson Hessen Digital«. Durch diese Unterstützung konnte etwa ein Roboterarm angeschafft werden, mit dem in zahlreichen Testungen sichergestellt wurde, dass die App Bewegungsmuster von Armen und Händen zuverlässig erkennen kann. Eng zusammengearbeitet haben die Entwickler von Anfang an auch mit den Patienten selbst, in Form der Hessischen Parkinson Vereinigung. Zu ihrer Freude seien diese ganz begierig darauf gewesen, die ParDi-App selbst auszuprobieren. »Die medizinische Nutzbarkeit ist ganz wichtig und um das darzustellen, sind wir ganz nah an die Patienten ran«, beschreibt Omed Ataiy das Vorgehen. Der Doktorand ist im Projekt unter anderem für die Einhaltung der regulatorischen Normen zuständig. Und das Engagement der Forschenden bleibt auch von anderer Seite nicht ungewürdigt: »Neuro Health« steht mittlerweile im Halbfinale des Hessischen Gründerpreises 2024.
Medizin 4.0 findet zu Hause statt
Mit der Entwicklung habe man bereits einen »Fuß in der Tür«, folgt man dem Konzept nun weiter, wird aber schnell klar, dass eine Unterstützung von Parkinson-Patienten nur der Anfang sein könnte. Der Einsatz der Plattform sei nämlich prinzipiell für viele Leiden vorstellbar. Denn nicht nur bei neurodegenerativen Krankheiten würden die Betroffenen nicht engmaschig genug beobachtet. »Eigentlich müssten viele Patienten wöchentlich ins Krankenhaus oder zum Arzt«, erklärt Kontz. »Die Fachärzte in Deutschland können das aber gar nicht leisten.« Auch Groß ist sich daher sicher, dass die Medizin von morgen zu Hause stattfinden wird. »Medizin 4.0« nennt er dieses Prinzip, nach dem die Patienten sich zwischen Arztbesuchen mit Hilfe digitaler Medien, wie eben der ParDi-App, selbst testen und beobachten, wodurch sich ihre Diagnose und Behandlung verbessern könnte.
Das bestehende Medizinsystem erkenne eine Erkrankung bisher erst, wenn sie eine bestimmte Schwelle überschritten habe. Durch ein dichteres Monitoring, beispielsweise ganz passiv via Smartwatch - die sowieso tagein tagaus getragen wird - könne man aber viele Vorzeichen und Symptome bereits Jahre vorher erkennen. Dass es sich bei dieser Vorstellung durchaus noch um etwas Zukunftsmusik handelt, ist den Entwicklern und ihren Betreuern natürlich bewusst. Sohrabi mahnt aber auch weitsichtig an: »Man muss die Technik von morgen schon heute generieren.«
An Ideen und Konzepten mangelt es den jungen Gründern also schonmal nicht. Doch aller Anfang ist schwer und zunächst gelte es, »das Projekt aus den Kinderschuhen zu kriegen«.
Geburtshelfer eines Projekts
Keywan Sohrabi und Volker Groß sehen sich gerne wohlwollend als die Geburtshelfer der noch jungen Ausgründung. Die Professoren wollen das Projekt so lange betreuen, bis es auf eigenen Beinen stehen könne. Konkret bedeutet das, bis ein fester Vertrag mit einem Partner zustande gekommen ist und dadurch finanzielle Sicherheit besteht. Auch dann werden die beiden Dozenten den Entwicklern aber selbstverständlich noch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite stehen, wie sie es schon mit dem ein oder anderen Start-Up, dass unter ihrer Anleitung geglückt ist, gehalten haben. Ob sich »Neuro Health« nun auch schon kurzfristig durchsetzen kann, erfahren die Beteiligten am 12. September. Dann treten sie nämlich im Marburger Lokschuppen gegen zahlreiche andere Halbfinalisten beim Hessischen Gründerpreis an.