Am 24. Januar läuft der letzte Abspann über die große Leinwand des Roxy. Dann ist im Kinocenter Friedberg nach 35 Jahren Schluss. Die Abrissbagger warten schon.
21. Dezember 2017, 14:55 Uhr
Von Jürgen Wagner
Das Jahr 2017 geht seinem Ende entgegen. Auch in diesem Jahr gab es Triumphe, Tragödien, Unglaubliches und Unvergessliches. Der Streifzug blickt auf die pärgenden Momente in der Wetterau zurück.
Heute: Im Kinocenter Friedberg fällt der letzte Vorhang.
Anfang des Jahres musste Kino-Besitzer Hans-Albert Wunderer eine schwere Entscheidung treffen. Private Gründe zwangen ihn, sein Friedberger Lichtspielhaus aufzugeben und das Grundstück zu verkaufen; sein zweites Kino in Weilburg betreibt er weiter. In der Bismarckstraße werden Eigentumswohnungen gebaut. Was bleibt, sind die Erinnerungen – an den ersten Kuss im Halbdunkel des Kinosaals oder den ersten Horrorfilm, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Der Start war verheißungsvoll. Am 21. Januar 1983 legte der gelernte Filmvorführer Wunderer, der schon als Jugendlicher im Kino seines Vaters in Idstein mitarbeitete, die Filmrolle »Star Wars – Rückkehr der Jedi-Ritter« ins damals noch analoge Vorführgerät. An dem Tag startete der Blockbuster deutschlandweit in den großen Kinos, und das kleine, aber feine Kino in Friedberg war dabei.
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Das war vor 35 Jahren nicht selbstverständlich. Von den Filmen gab es nur wenige Kopien, kleinere Häuser mussten oft Wochen warten, bis sie an der Reihe waren. Wunderer hatte zuvor im Marketing eines US-Verleihers gearbeitet und Kontakte geknüpft. So kam es, dass die Blockbuster nicht nur in den großen Städten Premiere feierten, sondern auch in der Wetterau.
Keine Parkplätze, keine Massen
Hans-Albert Wunderer hat das Kino in Friedberg auf eine höhere Ebene gehoben. Seither hat sich vieles geändert. Multiplex-Kinos bestimmen den Trend, kleinere Häuser ziehen nicht mehr die Massen an. Schon gar nicht, wenn es rundherum keine Parkplätze gibt. Anfangs gab es nur das Roxy mit rund 500 Plätzen. In den Achtzigerjahren wurde das Kinocenter umgebaut. Es gab erst drei und dann vier kleinere Säle. Ins Roxy passen immerhin noch 300 Zuschauer. Mit diesen »Schachtel-Kinos« wollte sich die Branche am Leben halten.
Das Kino platzte zehn Jahre lang aus allen Nähten
Hans-Albert Wunderer
»Die großen Säle waren leer, mehr Säle bedeutete eine größere Auswahl an Filmen«, erinnert sich Wunderer. Die Neunzigerjahren seien dann die besten Jahre gewesen. Das Konzept ging auf, die Stimmung sei außergewöhnlich gewesen. »Bei Komödien wurde vor 20 Jahren viel lauter gelacht als heute, bei Gruselfilmen hatten die Leute mehr Angst.« Kino habe damals »20 bis 30 Prozent mehr Gefühle« als heute bedeutet.
Nervenaufreibende Arbeit für Filmvorführer
Inzwischen hängen nur noch einzelne Buchstaben , wo einst Titel von Blockbustern standen. ...
Für die Filmvorführer bedeutete Kino damals eine nervenaufreibende Arbeit. In vordigitalen Zeiten gab es noch das Tellersystem. Alle 20 Minuten mussten die Filmrollen gewechselt werden. Mehr als einmal fiel einem Filmvorführer der Film von der Rolle und verteilte sich im ganzen Raum. Einmal brach während der Vorstellung der Metallring in der Mitte der Rolle, der Film flog »wie ein Ufo quer durch den Raum«.
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Schon allein die Vorstellung eines solchen »Film-Salates« auf dem Fußboden des engen Vorführraums war eine Horrorvorstellung. Einmal sollte »Ben Hur« gezeigt werden, mit über dreieinhalb Stunden einer der längsten Kinofilme überhaupt. »Der Film lief, als mir gesagt wurde, er sei vom Teller gefallen.« Wie von der Tarantel gestochen sprang Wunderer auf, stürmte in den Vorführraum – wo alles seine Ordnung hatte. Der Film lief an einem 1. April, es war ein Scherz gewesen.
Im Kinocenter galt: »Gespielt wird immer.« Ausfälle gab es nicht. Heute ist das anders Den Beruf des Filmvorführers gibt es nicht mehr, fällt die digitale Vorführtechnik aus, muss die Vorführung abgesagt werden. Größere Katastrophen habe es in den 35 Jahren des Bestehens im Kinocenter aber nicht gegeben, sagt Wunderer.
Über vier Millionen Besucher kamen in den vergangenen 35 Jahren. In den besten Zeiten waren es über 100 000 Besucher pro Jahr, im Rekordjahr 1994 sogar 185 000 Besucher. Die meisten Zuschauer zogen nicht etwa die Star Wars-Reihe oder die Harry-Potter-Filme an.
Dirty Dancing vor Pretty Women
Die Hitliste wird angeführt von »Dirty Dancing« und »Pretty Woman«. »Titanic«, »Jurassic Park«, aber auch der erste Otto-Film waren absolute Renner. »Terminator II war ein gigantischer Erfolg.« Manche der Filme liefen über Wochen. »Das Kino platzte zehn Jahre lang aus allen Nähten.«
Wunderer vergleicht sein Kino mit einer älteren Dame, die sich trotz abgelaufener Schuhe ihren Charme erhalten hat. An manchen Stellen sei zwar der Lack ab, aber die Atmosphäre sei nach wie vor sehr gut. Und die Technik halte jeden Vergleich mit größeren Kinos Stand.
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Wunderer erinnert sich gerne an die Schul-Kinowochen, an Sonntage, an denen die Familien nur so strömten, an Filmreihen mit dem Frauenzentrum und ans Open-Air-Kino im Rathaus-Park, bei dem er im Sommer 2018 noch einmal sein Equipment zur Verfügung stellt. »Das erste Wochenende ist der 29. und 30. Juni. Darauf freue ich mich riesig.«
Filmreihe des Bildungsforums besonders ans Herz gewachsen
Ganz besonders ans Herz gewachsen ist ihm die von Prof. Peter Schubert initiierte Filmreihe des Bildungsforums Friedberg. Außergewöhnliche Filme über Kunst und Künstler wurden gezeigt. Wim Wenders ließ in »Pina« das Ensemble des Tanztheaters Wuppertal in 3-D-Technik über die Bühne tanzen, zuletzt waren Dokumentationen über die Fußball-Hymne »You’ll never walk alone« und den Geiger Daniel Hope zu sehen. »Das hat Zuschauer ans Kino herangeführt, die schon lange nicht mehr kamen.«
Die digitale Technik macht es möglich, dass selbst alte, längst in den Archiven schlummernde Filme wieder auf der großen Leinwand gezeigt werden können. Erst dadurch sei die Filmreihe des Bildungsforums möglich geworden, sagt Wunderer. Es ist auch ein Zeichen der Dankbarkeit an das Bildungsforum, wenn als letzter Film die Komödie »Eins, zwei, drei« von Billy Wilder aus dem Jahr 1961 gezeigt, mit James Cagney, Horst Buchholz und Liselotte Pulver in den Hauptrollen. »Den hatte sich Prof. Schubert schon immer gewünscht, das wird der letzte Film, der am 24. Januar läuft.« Der Eintritt ist frei. Es wäre doch schön, wenn das Kinocenter beim letzten Abspann wie in alten Zeiten noch einmal brechend voll wäre.