29. März 2018, 14:47 Uhr

Gießener Köpfe 2018

Gießener Köpfe: Matthes der I. von Oberhessen im Porträt

Als Gießener ist es kaum möglich an Matthes von Oberhessen oder seinen Kunstwerken vorbeizukommen. Der selbsternannte Zeittreibgutsammler hat die Stadt schon immer aufgemischt. Ein wahrhaft kreativer Gießener Kopf.
29. März 2018, 14:47 Uhr
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Von Katharina Ganz
Gießener Köpfe 2018: Matthes der I. von Oberhessen (Foto: Schepp)

Im Interview spricht der 52-jährige Matthes der I. von Oberhessen über sein Leben als Künstler, seine Inspirationsquellen und über die Auseinandersetzung mit Regionalgeschichte.

 

KÜNSTLERDASEIN

Sie sind Künstler auf dem Land. Ist es da nicht schwer, Aufmerksamkeit auch über die Region hinaus zu erlangen?
Das ist heute kein Problem mehr. Der Wille dazu ist die einzige Voraussetzung. Übers Internet hängt man an der ganzen Welt. Aber bevor es das gab, habe ich schon schräge Sachen gemacht. Ich hatte durch die Army in Gießen Kontakte in die USA und habe kurzerhand eine Telefonzelle zur Galerie gemacht. Die Möglichkeit, einfach mal in New York an irgendeiner Straßenecke auszustellen, war ein Knaller damals. Da hingen dann Mitte der 1980er Jahre Polaroid-Fotos von Dingen, die ich gemacht habe in einer Telefonbude.

Muss Ihre Kunst für jeden verständlich sein?
Ich vertrete eigentlich die These: Wenn man es erklären muss, ist es nicht gut. Andererseits brauchen manche Dinge eine Erklärung, weil man sie sonst nicht versteht. Man muss überlegen, ob etwas nur dekorativ sein soll oder eben nach dem Motto »Ist das Kunst oder kann das weg?«.

Manchmal ist Langweile ein schöner kreativer Faktor

Matthes von Oberhessen

Braucht man als Künstler ein starkes Selbtsbewusstsein?
Auf jeden Fall. Jedes Kunstwerk ist ein Stück von einem selbst. Man hängt ja seinen nackten Arsch in die Öffentlichkeit. Man hat lange Zeit etwas gemacht, sich dabei einen abgebrochen und dann kommen die Leute, reden über tausend Sachen, die es da gar nicht zu sehen gibt, jammern nach Schnittchen und Sekt und geben negative Kommentare ab. Letztendlich heißt es »na ja, war ja ganz nett«. Das ist irgendwie scheiße. Damit muss man umgehen können.

Haben Sie manchmal Schaffenskrisen?
Ja, das kommt auch vor, dass man dasitzt und keine Idee hat, wenn man ganz dringend eine kriegen müsste. Aber ich finde immer wieder heraus. Es lässt sich nichts erzwingen. Manchmal kommen die Ideen dann auf ganz profane Art und Weise. Beim Autofahren, beim Tischtennis, im Kino. Manchmal ist Langweile ein schöner kreativer Faktor. Schön dafür ist etwa auch Auto waschen oder beim Autowaschen zugucken. Das ist schon fast Folter, denn für mich ist nichts unsinniger als Auto waschen – abgesehen von wenigen Ausnahmen.

Und wie würden Sie Ihr Publikum beschreiben?
Ein paar spucken wahrscheinlich aus, wenn sie mich sehen oder meinen Namen hören. Man hat nicht überall Fans, aber das wollte ich auch nie. Aber eins ist sicher: Wenn irgendetwas stattfindet, woran ich beteiligt bin, kommen viele. Selbst die, die mich nicht ausstehen können, um wenigstens lästern zu können. Die schärfsten Kritiker rücken an, um zu sehen, was da passiert. Das betrachte ich mit Respekt und finde das gut. Wenn man da war, kann man sich auch ein Urteil bilden.

 

VERGANGENHEIT & ZUKUNFT

Was macht Gießen für Sie regionalgeschichtlich aus?
Gießens braune Geschichte, seine Zweite-Weltkriegs-Geschichte. Das ist das, was Gießen extrem ausmacht. Gießen hat das nie als Chance betrachtet, glaube ich. Es wird immer noch damit gerungen. Wer sich damit auseinandergesetzt hat, war am Rand der Gesellschaft. Damit wollte niemand etwas zu tun haben. 1997 habe ich mit einem Kollegen die Ausstellung »Erinnerung an die Endzeit« im MuK gemacht. Da hatten wir über 1200 Besucher. Es wurde erstmals die Skulptur gezeigt, die für viel Wirbel gesorgt hat: »Die trauernde Witwe« an der Licher Gabel vor dem Fliegerdenkmal.

Haben Sie ein Beispiel für Ihre künstlerische Auseinandersetzung mit der Historie der Region?
Zum Beispiel die »Verwerfungslinie«. Das war ein Koffer voller Sand mit einem Loch auf der Unterseite. Damit bin ich dann marschiert. Beim Laufen zog ich eine Schlangenlinie hinter mir her. Die sah so aus wie die Wasserkante am Meer. In Bettenhausen gab es vor 380 Millionen Jahren mal ein Urmeer, das schwappte auf der Höhenlinie 187 dorthin. Das habe ich damit sichtbar gemacht. Solche Aktionen geben einen kurzen Fokus auf etwas.

Hätte ich die Wahl, wäre ich gerne Zeittreibgut. Dann hätte ich die Möglichkeit, mehrere Zeiten zu erleben

Matthes von Oberhessen

Sie bezeichnen sich als Zeittreibgutsammler. Was heißt das?
Ich bin ein Fan von »Per Anhalter durch die Galaxis«. In einem Buch taucht der Ausdruck Zeittreibgut auf. Das ist der Moment, indem ein Gegenstand eine Lücke im Zeit-Raum-Kontinuum findet. Da steht etwa plötzlich auf der prähistorischen Erde ein Paisley-Sofa. Zeittreibgut heißt: Es bleibt nicht dort, sondern reist weiter in der Zeit. Ich habe schon immer ein Faible für Sperrmüll. Oder besser: für jahrzehntelang stillgelegte Gebäude. Dort stolpert man über Sachen, die der Vergänglichkeit preisgegeben sind. Mir gelingt es an manchem Ort zur richtigen Zeit zu sein. Dort finde ich Gegenstände, die allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt haben. Das ist für mich Zeittreibgut und deshalb bin ich Zeittreibgutsammler.

Suchen Sie sich immer einen Zeitpunkt in der Geschichte aus, oder sind es Zeitspannen, die Sie zum Gegenstand machen?
Ich springe zwischen den Zeiten. Meistens gibt es einen wilden Ritt über 2000 Jahre. Und das immer aus meiner Perspektive. Ich versuche immer, Dinge gegenüberzustellen, und frage etwa danach, »was wäre, wenn…?«.

Wenn Sie sich aussuchen könnten, in welcher Zeit Sie leben könnten, wäre es heute?
Hätte ich die Wahl, wäre ich gerne Zeittreibgut. Dann hätte ich die Möglichkeit, mehrere Zeiten zu erleben. So gesehen, wäre ich gern das Paisley-Sofa, das von einem Zeitloch ins andere hüpft, um zu sehen, wer sich dann draufsetzt.

Info

Die Serie Gießener Köpfe

Den kenne ich doch irgendwoher?, werden Sie vielleicht über unseren Interviewpartner denken. Gut möglich, denn diese Gießener Köpfe prägen das Stadtbild, die lokale Kulturszene oder die Bildungslandschaft. Unser Fotograf Oliver Schepp hat acht Gießenerinnen und Gießener ins Rampenlicht gerückt. Und die jungen Journalistinnen und Journalisten vom GAZ-Magazin Streifzug haben mit ihnen über zwei oft ganz unterschiedliche Themen geplaudert. Alle Interviews mit großen Portätfotos gibt's in der Streifzug Sonderausgabe April 2018 an allen bekannten Vergabestellen und in unserer Geschäftsstelle in der Marburger Straße 20.

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