22. Dezember 2016, 17:03 Uhr

Kettrukat: Belastung zu hoch

Verletzungen gehören dazu. Im Fußball, ebenso wie im Handball, im Eishockey und im Basketball. Kosten in Höhe von rund zehn Millionen Euro und ein Arbeitsausfall von mehr als 200 Jahren (!) haben sich nach einem Report der BG alleine in der Saison 2014/15 in den höchsten Spielklassen der vier großen Teamsportarten summiert.
22. Dezember 2016, 17:03 Uhr
Marco Kettrukat (Foto: Red)

Welche Parallelen zeigen sich in der Analyse? Und unterscheidet die Berufssportler? Wir haben Marco Kettrukat, der den EC Bad Nauheim und die HSG Wetzlar betreut, gefragt. Der Druck ist latent. Wer nicht fit ist, wer seine eingekaufte Leistung nicht anbieten kann, der ist schnell vergessen. Vor allem im Profisport, in dem Verträge meist auf wenige Monate befristet werden und die Zahl junger, nachdrängender Spieler groß ist. »In der Vergangenheit waren es eher die Klubs und Trainer, die ihren Spieler schnell wieder auf dem Feld sehen wollten. Heute werden die Spieler selbst schneller ungeduldig«, sagt Marco Kettrukat aus Ober-Mörlen mit eigener Praxis in Wetzlar. Der 49-Jährige ist Teamarzt der HSG Wetzlar (Handball-Bundesliga) und des EC Bad Nauheim (Deutsche Eishockey-Liga 2) und stellvertretender Mannschaftsarzt der Handball-Nationalmannschaft. Auf Basis der BG-Analyse spricht Kettrukat über sportartspezifische Verletzungen, die zunehmende Anerkennung der medizinischen Betreuung und die (Über-)belastung von Sportlern.

Marco Kettrukat, Sie begleiten die HSG Wetzlar und den EC Bad Nauheim. Sind Sie als Mediziner auch Fan der beiden Mannschaften und Sportarten?

Marco Kettrukat : Ja, das muss man sein. Wenn man die Begeisterung nicht mitbringt, ist es schwer, Woche für Woche bei den Spielen dabei zu sein. Ich bin Fan des Sports, der Jungs und auch von dem persönlichen Benefit, den ich daraus ziehen kann, in dem ich aus dem normalen medizinischen Alltag einmal abschalten kann.

Wie ist als Mannschaftsarzt Ihr Verhältnis zur Berufsgenossenschaft?

Kettrukat: Die BG hat im Rahmen eines Pilotprojekts bundesweit rund 200 anerkannte Mannschaftsärzte als Ansprechpartner. Die Zusammenarbeit hat sich seitdem für beide Seiten erheblich verbessert, und wir sind auf einem vertrauensvollen Weg, um der Bedeutung der Sportmedizin im Leistungssport gerecht zu werden.

Im Sportreport hat die BG die Unfallergebnisse zusammengefasst und analysiert. Haben Sie für sich persönlich Auffälligkeiten ausmachen können?

Kettrukat: Ja. Die Kopfverletzungen im Eishockey beispielsweise. Die exponierte Stellung des Kopfes als verletzungsdominante Region sticht heraus. Zudem ist die Zahl der Trainingsverletzungen im Vergleich zum Wettkampf niedrig. Das mag daran liegen, dass die vergleichsweise wenigen Eiszeiten mehr für taktische als für Kontakt-Übungen genutzt werden.

Auffallend sind - quer durch alle Sportarten - die Verletzungen während der Saisonvorbereitung. Wird von den Trainern zu früh zu viel gefordert?

Kettrukat: Ja. Oft bleibt für die Vorbereitung nur eine Spanne von vier bis sechs Wochen. In der ersten Woche wird aufgrund der obligatorischen Termine wie Medizinchecks, Einkleidung, Pressekonferenzen nur in einem reduzierten Umfang trainiert, doch stehen dann schon die ersten Turniere mit kurzen Regenerationszeiten auf dem Programm. Dabei sind die athletischen Grundlagen oft noch gar nicht geschaffen worden.

Ist seitens der Spieler mehr Eigeninitiative außerhalb der Saison gefordert?

Kettrukat: In Bad Nauheim - das kann ich sagen - arbeiten die Spielern im Sommer individuell sehr intensiv. In anderen Sportarten spielt das eine eher untergeordnete Rolle, wiederum anderen bleibt - wie beispielsweise den Handball-Nationalspielern - kaum Zeit zur Regeneration. EM im Januar, die Olympischen Spiele im Sommer, die nächsten internationalen Titelkämpfe im Januar, dazu Champions League. Da bleibt keine Zeit. Grundsätzlich ist in Sachen Eigeninitiative in den letzten Jahren ein Wandel zu spüren. Die Spieler erscheinen in einem ordentlichen Fitnesszustand zum Training. In Wetzlar hatte im Sommer ein Spieler seinen Urlaub storniert, um nach einer Verletzung über Trainings- und Rehamaßnahmen zum Trainingsstart auf ein normales Level zu kommen.

Inwiefern werden Konsequenzen gezogen?

Kettrukat: Die Spieler werden vor dem Trainingsauftakt medizinisch untersucht; kardiologisch und orthopädisch. An die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind auch die Spielgenehmigungen gebunden. Im Eishockey und Basketball gibt’s das schon länger. Im Handball wurde das zu dieser Saison eingeführt. Und wir sind auch auf Auffälligkeiten gestoßen, die wir in Wetzlar in die Trainingsarbeit einbezogen haben, um Spieler aus der Belastungssituation herauszunehmen. Einige Spieler mussten dosierter einsteigen und im Athletikbereich zunächst ein reduziertes Programm absolvieren. Die Spieler haben äußerlich topfit gewirkt. Wenn sie aber voll eingestiegen wären, wären Ausfälle programmiert gewesen.

Ist es ein Fehler der Trainer, Spieler zu einem solch frühen Saisonzeitpunkt intensiv zu belasten?

Kettrukat: Die Trainer würden sich wahrscheinlich eine längere Vorbereitungsphase und mehr Eigeninitiative wünschen. Aber der Trend führt in diese Richtung. Die Spieler bekommen Programme für die individuelle Vorbereitung und müssen gewisse Werte erreichen, da sonst Strafen drohen. Man darf nicht vergessen, das gerade im Fußball und im Handball, in Sportarten ohne Playoffs, eine Mannschaft vom ersten Spieltag an funktionieren muss, sonst kann der Zug in Richtung Meisterschaft oder Klassenerhalt schnell abgefahren sein.

In der Vergangenheit hatte eine Mannschaft einen einzigen Trainer. Heute gibt es Assistenten, Athletik-Coaches, Physiotherapeuten - im professionellen Bereich ein ganzes Team hinter dem Team. Welche Rolle spielt diese Entwicklung für die Prävention und die Rehabilitation?

Kettrukat: Solche Entwicklungen sind sicher ein Ziel der Berufsgenossenschaft, die Gelder lieber in Prävention als in Schadensleistung investiert. Die Vereine tun sich mitunter schwer, weil’s Geld kostet. Da heißt es schnell: ›Das kann doch der Co-Trainer noch nebenbei machen.» Wenn man aber einen Physiotherapeuten im Team hat, wie beispielsweise der TV 05/07 Hüttenberg mit Peter Nagel, der im Bereich Prophylaxe und Stabilisation arbeitet, wird sich das für die Mannschaft auszahlen. Solche Programme werden zudem durch die BG gefördert und honoriert.

Sie hatten die erstaunliche Zahl der Kopfverletzungen beim Eishockey angesprochen. Müssen die Regeln verschärft werden, oder ist das Berufsrisiko?

Kettrukat: Natürlich sind solche Verletzungen ein Teil des Sports. Schnelligkeit, Dynamik, der Kampf an der Bande - all das zeichnet den Sport aus, und die meisten Verletzungen passieren in Bandennähe. Ich denke, die Auswirkungen der Kopfverletzungen werden aber auch heute noch unterschätzt. Spieler kommen zu früh zurück und tragen mitunter chronische Schäden davon. Das kennen wir auch aus Bad Nauheim, wenn ich an Chris Heid denke, der seine Karriere beenden musste. Kopfverletzungen und vor allem deren Folgen rücken erst langsam in das Bewusstsein der Breitensportmedizin. Attacken gegen den Kopf sollten progressiver bestraft werden, denn gerade solche Verletzungen können mit katastrophalen Folgen enden. Ständiger Kopfschmerz, eingeschränkte Belastungsfähigkeit, ein körperlicher Zerfall - das ist schon etwas anders als eine Hand-, Knie oder Sprunggelenksverletzung, die in der Regel nach Wochen ausheilt. Kopfverletzungen sind tückisch, weil man sie nicht sieht und sie schwer messbar sind. Aber die Verbände sind hier auf einem guten Weg.

Sind Sie mitunter im Zwiespalt zwischen Sportlern, denen Sie eine Verletzung bewusst machen, und Trainern und Funktionären, die Druck ausüben und auf eine schnelle Rückkehr drängen?

Kettrukat: Man ist immer im Zwiespalt. Die Spieler möchten schnell zurück, weil sie oft nur Zeitverträge haben und sich permanent beweisen müssen, um für die nächste Saison ein Angebot zu erhalten. In Bad Nauheim und in Wetzlar versuche ich, den Spieler in die richtige Richtung zu bewegen. Da gibt’s auch keinen Druck von Vereinen. Natürlich gibt es Grenzbereiche mit kalkulierbarem Risiko. Seitens der Trainer und Klubs setzt es sich mehr und mehr durch, dass Ausfallzeiten akzeptiert werden. Besonders auffällig ist dies im Fußball. Die Ausfallzeiten sind länger, die Kader größer, es gibt mehr Alternativen. Zudem werden in den Profiligen auch andere Gehälter bezahlt.

Zu den fußballtypischen Verletzungen zählen Muskelfaserrisse. Lässt sich auch hier vorbeugen?

Kettrukat: Solche Verletzungen entstehen im Fußball und Handball oft durch die permanente Belastung beim Sprint. Zumeist ist hier allerdings eine Überbelastung, beziehungsweise eine fehlende Regeneration ursächlich. Im Training wird deshalb mit unterschiedlichsten Maßnahmen gearbeitet. Stichworte: Stabilisierung, Muskelregeneration. Eine Muskelverletzung ist schwer zu urteilen. Wie weit ist der Spieler schon belastbar? Fühlt er sich gut? Muss er dosiert trainieren? Die Wettkampfsituation ist gleich eine andere. Da kommen Adrenalin und Aggressivität dazu. Da kann eine ausgeheilte Verletzung schnell wieder aufbrechen, weil die Belastungsdiskrepanz zu hoch ist. Ich glaube nicht, dass hier falsches Training oder eine falsche Behandlung ursächlich ist.

Apropos Regeneration. Welche Bedeutung hat sie?

Kettrukat: Sie ist extrem wichtig. Mit dem Ende eines Wettkampfs beginnt die Regeneration, Prophylaxe und Vorbereitung auf das nächste Spiel. Da stellt sich die Frage, ob man den Spielern vorschreibt, was sie zu sich nehmen, oder ihnen die Verantwortung selbst überlässt. Es ist wichtig, die Kohlenhydratspeicher zu füllen, auszulaufen und zur Ruhe zu kommen. Es ist nicht Sinn der Sache, beispielsweise an einem trainingsfreien Tag zum Stadtbummel mal nach München zu fahren.

Sie arbeiten in Wetzlar mit Kai Wandschneider und in Bad Nauheim mit Petri Kujala zusammen. Inwiefern finden Sie Gehör, können Einfluss nehmen?

Kettrukat: Wir treffen uns regelmäßig, um uns auszutauschen und zu analysieren, was wir besser machen können. Manchmal holen wir auch die Klubführung mit ins Boot. Die Trainer und die Physios sind - anders als wir Ärzte - tagtäglich an der Mannschaft. Da braucht man kurze Kommunikationswege.



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