Früher war alles - nein, nicht besser, aber anders als heute. Ganz anders. Wenn ich an meine Kindheit denke, dann kommt es mir so vor, als hätte ich in einem anderen Zeitalter gelebt, damals in meinem kleinen Dorf im Seenbachtal. In meinem Geburtsjahr 1957 wurde die Wasserleitung verlegt. Ein großer Fortschritt für die Menschen. Strom gab es schon viel länger, verbraucht wurde im Vergleich zu heute aber eher wenig.
Es gab damals Glühbirnen mit gerade mal fünf Watt. Ein Fernsehgerät stand seit 1954 im Dorfgemeinschaftshaus. Der klobige Flimmerkasten war übrigens ein Geschenk des Hessischen Rundfunks. Dort hoffte man wohl auf eine höhere Einschaltquote. Ein Radio hatten manche im Dorf, aber längst nicht alle. Was es sonst an Technik gab: Autos - weniger als eine Handvoll; schwarze große Telefone mit Wählscheibe - drei oder vier. PCs, Notebooks, Tablets oder Smartphones? Kannte man nicht, ahnte nicht mal, dass es so etwas einmal geben würde.
Die Menschen arbeiteten hart zu dieser Zeit, rackerten sich ab für ein oft mageres Einkommen. Stress kannten sie aber nicht. Terminkalender brauchten sie nicht. Wichtiges wurde per Mundpropaganda weitergegeben - auf der Straße. Heute trifft man nur noch selten einen Menschen, wenn man durchs Dorf geht. Früher war immer irgendjemand mit Traktor, Pferdefuhrwerk, Fahrrad oder zu Fuß unterwegs. In fast jedem Hof sah man Männer und Frauen bei der Arbeit. Meist war Zeit für ein Schwätzchen. Faulenzer waren die Menschen aber nicht. Sie packten an. Aber sie atmeten auch durch, machten Pausen - bei »Lindes«-Kaffee und Leitungswasser.
Wandel als Normalität
Heute muss alles schnell gehen und schnell sein: Ich gehe über die wenigen Straßen meines Dorfes und staune über den sichtbaren Wandel. Ich habe kein außergewöhnliches Fortbewegungsmittel gewählt, ich gehe zu Fuß. Ich bin an keinem besonderen Ort, »nur« in meinem Dorf. Meine Gedanken gehen zurück: zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahre und ein bisschen mehr. Ich schlendere über unseren Prachtboulevard, die frühere »Ortsstraße«, das sind rund 400 Meter. Mein Weg ist das Ziel. Meine Geschichte ist nicht einzigartig, sie ist eher repräsentativ für meine Generation auf dem Land, für die der stetige Wandel die Normalität war und ist.
Die ruhigste Zeit waren die Kinderjahre. Unser Leben spielte sich damals noch überwiegend draußen ab. Wir wussten noch, wie Regen und Schnee schmeckten. Auf dem Bolzplatz spielten wir Fußball bis zum Umfallen. Zwei dürre Stangen bildeten den »Kasten«. Viel später wurde ein Tor aus Aluminium aufgebaut. Lange Zeit stand es einsam auf der Wiese, auf der ab und zu Schafe oder Pferde weideten. Fußball spielt hier keiner mehr.
Es brennt im »Lichthäuschen«
Zurück zum Ausgangspunkt meiner Reise, zu den frühen 60er Jahren. Ich erwähnte die wenigen Telefone, die es damals gab. Eins davon stand auf dem Schreibtisch meines Vaters. Wir waren nicht etwa wohlhabend, hatten nur deshalb solch ein futuristisches Gerät, weil Vater Karl die örtliche Niederlassung der Genossenschaft leitete, und da brauchte er so etwas, um schnell Bestellungen an die »Bäuerliche« in Gießen weiterzuleiten. Vielen Menschen im Dorf, auch mir, war der Apparat suspekt.
Wir hatten ohnehin Respekt vor allem, was neu war. Als viele Jahre zuvor die Elektrizität ins Dorf gekommen war, da »brannte« es mal im »Lichthäuschen«, wie das Transformatorenhaus genannt wurde. Ein heller Lichtschein war im Fenster ganz oben im Gebäude zu sehen. Feueralarm! Die besorgten Honoratioren trauten sich nicht heran an den »Brandherd«. Einer wollte, als er mit seinem Rad am Haus vorbeifuhr, die Hitze »förmlich gespürt« haben. Strom, das wusste man, war gefährlich. Nach einigem Hin und Her kam ein Mann vom Überlandwerk. Er hatte bei Wartungsarbeiten vergessen, das Licht auszuschalten. Er legte den Schalter um - und der »Brand« war gelöscht.
Zurück zum Telefon: Schon lange hantiere ich wie selbstverständlich mit meinem Smartphone, empfange Eilmeldungen, schreibe und empfange WhatApp-Nachrichten, lade Musik und Apps, nutze das Geräte als Navi, speichere meine Termine. Nichts Besonderes, Millionen andere Menschen meiner Generation tun das auch. Ich verstehe aber weder die Technik, noch macht mich dieses wirklich schicke Gerät glücklich. Aber es hat mich fest im Griff. Mein »Handy« ist meist stummgeschaltet, weil das Klingeln (für andere) störend ist. Ich ertappe mich aber oft dabei, dass ich schaue: Sind neue Nachrichten oder Mails angekommen? Pushmeldungen vielleicht? Gab es Anrufe?
Der Computer ist mein wichtigstes »Handwerkszeug«. Ohne ihn kann ich meinen Job nicht erledigen. Ich war 30 Jahre alt, als ich das erste Mal vor einem alten »T1«-Bildschirm saß - grüne Schrift auf schwarzem Hintergrund. Kein Vergleich zu den Hightech-Geräten von heute. Ich bin noch immer kein Computerfreak, aber ich kann mit PC und Mac umgehen, kann Zeitungsseiten bauen, meinen Mail-Verkehr steuern, surfen, Videokonferenzen einberufen - alles, was nötig ist.
Meine Kinder können all das besser als ich. Außer Seiten bauen. Hätten sie die Software, würden sie mich vermutlich auch hier abhängen. Sie sind in dieser Welt aufgewachsen. Und sie sind Mitglieder der großen »sozialen Netzwerke« (weiß nicht, was daran sozial ist). Sie sind bei »Insta« und TikTok, und sie treiben sich auch bei »X« herum. Ich nicht, ich halte das für Zeitverschwendung. Gut, ich schaue meinen Töchtern gerne mal über die Schulter, aber wirklich interessiert bin ich nicht. Ein bisschen vielleicht...
Viele Jugendlichen von heute können kaum glauben, dass es »früher« kein Internet gab. Meine ersten Berührungspunkte mit »Technik«: Als ich 14 Jahre alt wurde, kaufte ich mir vom »Konfi«-Geld ein »Bonanzarad«, im selben Jahr bekam ich zu Weihnachten eine Carrerabahn geschenkt. Ich war in der (damaligen) Moderne angekommen. Der Schalthebel des Rades war einfach nur genial. Heute würde man »geil« sagen. Aber das Wort kannten wir noch nicht, später dann schon, aber zunächst in einem anderen Zusammenhang als heute.
Wir »Bauern« aus dem Vogelsberg
Ich schlendere weiter über die ehemalige Ortsstraße, die in einem Abschnitt später Schulstraße hieß. Nun, eine Schule gibt es schon lange nicht mehr im Dorf. Mein Jahrgang - wir waren drei Jungs, Rüdiger, Thilo und ich - war einer der Letzten, der im Schulhaus lernte. Die Grundschule zog dann samt Mobiliar und Lehrer nach Lardenbach, später nach Grünberg. Die Kinder der Sekundarstufe II gingen schon seit Anfang der 60er Jahre nach Grünberg. Dort trafen wir auf die »Städter«, die hochdeutsch sprachen - im Gegensatz zu uns. Manche schauten deshalb verächtlich auf uns herab. Die Grünberger trugen schon Jeans, wir alte, abgewetzte Stoffhosen mit Bügelfalten. Heute würde man sagen: Das geht ja gar nicht. Damals ging es, musste es gehen. Wir hatten keine anderen Hosen.
Ich war im elften Schuljahr, als ich meine ersten Jeans bekam. Gut, es waren keine Levis, der Schnitt war gruselig, sie waren mir drei Zentimeter zu kurz, und sie hatten nicht viel gekostet - aber es waren Jeans. Lehrer und Mitschüler spotteten: »Na, du Bauer aus dem Vogelsberg, hast du dir eine Cowboyhose gekauft?« Ich trug sie trotzdem, aus Trotz - und weil die Alternative Stoffhosen waren.
Nach dem Abitur war dann die ruhige Zeit vorbei, die Welt drehte sich nach meinem Gefühl immer schneller. Ständig gab es Neues zu sehen, zu kaufen, zu testen. Selbst bei so profanen Dingen wie Hosen war Wechsel die Regel. Es gab welche mit Schlag und ohne, mit Steg und ohne, weit ausgestellt, als »Karotte«, »slim fit« oder »bootleg« (für Stiefelträger). Mal war satt Indigo angesagt, mal ausgewaschen, mal schwarz. Mal musste die Hose Löcher haben, mal nicht. Eine Jeans war früher eine Jeans: blau, robust, alltagstauglich. Heute sagt eine »501«, eine »7 for all Mankind« oder eine Replay Anbass etwas über den Lebensstil ihres Besitzers aus: Ist er bieder, cool, alternativ, konservativ ... Rasant der Wechsel auch bei der Musik. Geboren in RocknRoll-Zeiten, aufgewachsen mit Beatles und Stones, kam in der Teenager-zeit die Abba-Mania über uns. Sound, Kleidung, Frisuren, Studio- und Bühnenausstattung - was gabs da für schräge und quietschbunte, aber auch für mich nachahmenswerte Sachen.
Was sich bei Rock- und Popkonzerten stark verändert hat: Früher standen drei bis fünf Menschen auf der Bühne, ein paar Scheinwerfer sorgten für Licht, und die fetten Boxen ließen es krachen. Heute braucht es Feuerwerk, computergesteuerte Lightshows, bombastische Soundmaschinen, riesige Leinwände, - und fürs Auge hübsche junge Damen in kurzen Röcken, die bei den Balladen Geige und Cello spielen.
Ich spaziere weiter im Dorf, sehe all die schicken Pkw, die auf den Höfen parken. Im ersten Auto meines Vaters tobten wir während der Fahrt auf der Rückbank. Gurte gab es nicht, der Schalthebel war am Lenkrad oder sah aus wie ein Spazierstock. ABS, ESP, Airbag, Spurhalteassistent kamen erst viel später. Heute ist das alles serienmäßig, dazu gibt es allerlei weitere Elektronik für Spiegel, Fenster, Lampen. Schnickschnack, aber auch sinnvolle, im Ernstfall vielleicht lebensrettende Ausstattung. Ziel der Entwickler ist dabei die »Vision Zero«. Heißt: Keine Toten und Schwerverletzten mehr im Straßenverkehr. Das wäre schön! Das Ende ist nicht erreicht, die Ingenieure brüten weiter über Design und Sicherheitslösungen.
In einer Umbruchphase sind die Erzeugung von Strom und das Heizen. Das wurde auch Zeit. »Atomkraft? Nein danke« ist kein Wunschtraum mehr. Obwohl: Man hätte sie nicht in Panik abschalten, sondern erst mal die Alternativen checken sollen. Heute reden wir über Wärmepumpen, Erdwärme und Gezeitenkraftwerke, montieren uns Solar- und Fotovoltaikanlagen aufs Dach. Früher gabs Holzöfen, die qualmten ganz furchtbar. Und dann Ölheizungen, die stanken extrem. Diese Zeiten neigen sich, Gott sei Dank, dem Ende entgegen.
In einem durchschnittlichen Einfamilienhaus waren noch vor 60 Jahren fünf, vielleicht zehn Steckdosen installiert. Heute sind es 100 und mehr. Nichts geht mehr ohne Strom, selbst für Milchschaum haben wir ein Gerät mit Stecker.
Kurzum: Wir kommen an den »Errungenschaften« der Technik und der digitalen Welt kaum noch vorbei. Wir machen - was bleibt uns übrig - vor allem bei Bekleidung, Frisuren, bei Inneneinrichtungen und Gartengestaltung fast jede Mode mit. Der Wandel, das Neue ist die Regel. In meinem Beruf kann ich ohne Computer, Laptop, Smartphone, Internet und all das nicht »überleben«. Ich muss mitmachen, lernen, dranbleiben.
Mit Freunden am Lagerfeuer sitzen
Vor einigen Jahren habe ich geschrieben: »Aber irgendwann werde ich den Stecker ziehen. Sollte ich das Rentenalter erreichen, dann wird mein einziges Hightech-Gerät eine richtig gute Spiegelreflexkamera sein. Damit werde ich knipsen wie ein Weltmeister. Einen Mini-Computer werde ich haben, um Mails zu verschicken und Fotos zu speichern, das ist o.k. Wir werden nur noch ein Auto haben, mit ESP und ohne Schnickschnack. Ich werde - wie in meinem letzten Urlaub - Basalt- und Backsteine vermauern, Dielen abschleifen, neue Beete anlegen, auf unserer Lieblingsbank sitzen und mit meiner Frau Cappuccino trinken - mit aufgeschäumter Milch. Mit meiner jüngsten Tochter, die dann 18 sein wird (dieses Ziel hat sie 2023 erreicht), werde ich zum Rockkonzert gehen. Ich werde meine älteren Töchter besuchen, wo auch immer sie dann wohnen. Ich will mit meiner Frau nach Neuseeland fliegen. Ich möchte mit Freunden am Lagerfeuer sitzen, dabei geile Mucke hören und von den guten alten Zeiten träumen.« Nur wenig von all dem habe ich verwirklicht. Obwohl ich mittlerweile (Teilzeit-)Rentner bin. Ich arbeite immer noch in meinem Lieblingsberuf. Wie lange noch? Keine Ahnung.