Als SPD-Generalsekretär Matthias Miersch am Sonntag kurz nach der 18-Uhr-Prognose von einer »historischen Niederlage« spricht, wird der Bildschirm im Gießener Rathaus für einen Moment schwarz. Aus Genossen-Sicht ist das Bundestagswahlergebnis eine herbe Klatsche - und der hiesige Direktkandidat Felix Döring verbrachte seinen Geburtstagsabend am Sonntag mit gemischten Gefühlen: »Alle waren ein bisschen traurig - und froh, dass der Wahlkampf rum ist«, blickt er auf die »Wahlparty« zurück.
Am heutigen Dienstag fährt er nach Berlin, wo sich die bisherige und die neue SPD-Fraktion treffen. »Das wird für einige sehr traurig«, sagt Döring, denn statt bisher 207 Sitzen werden die Genossen im künftig kleineren Plenum nur noch 120 haben. Der 34-Jährige hat im Wahlkreis persönlich rund neun Prozent mehr als seine Partei geholt, schafft es diesmal über die Landesliste nach Berlin. Der Verdruss über die Wahlkampfstrategie ist ihm deutlich anzumerken. »Man kann es stark an der Person von Olaf Scholz festmachen«, sagt er. Oft habe er im Wahlkampf gehört, dass man die SPD allein schon wegen des Kanzlers nicht wählen könne.
Zwar sei man hinterher immer schlauer, »aber die Strategie, drei Jahre zu versuchen, sich über Wasser zu halten und zu hoffen, dass die CDU den unbeliebteren Kandidaten aufstellt, war falsch«. Die SPD, so Döring, müsse sich nun personell neu aufstellen. Das heiße nicht, dass alle Verantwortlichen im Willy-Brandt-Haus nun ausgewechselt werden müssten. »Olaf Scholz wird sicher keine Rolle mehr spielen. Alles andere ist offen.« Die Festlegung auf Scholz sei jedenfalls ein Fehler gewesen.
Trotz des schlechten Abschneidens der SPD scheint eine schwarz-rote Koalition im Bund nun die wahrscheinlichste Option zu sein, vorab jedoch müsse es erneut einen Mitgliederentscheid geben, fordert Döring. Nach dem - auch zwischen Union und SPD - hart geführten Wahlkampf braucht es aktuell einige Fantasie, um sich ein stabiles Bündnis vorzustellen. »Mit der Merkel-CDU war das einfacher«, nun sei die Union »stark nach rechts gerückt«. Döring nimmt Friedrich Merz unter anderem übel, dass dieser noch am Wochenende Kritik an den jüngsten Demos »gegen Rechts« geübt hat. »Das ist ein Beispiel dafür, dass der Mann sich nicht im Griff hat«, sagt der SPD-Politiker. »Ich kann mir schwer vorstellen, ihn als Kanzler zu wählen. Das ist ein Dilemma.«
Die SPD habe selbst unter schwierigen Rahmenbedingungen »immer Verantwortung für die Demokratie übernommen«, werde das auch jetzt tun. Perspektivisch blickt Döring indes nach links: »Es gilt daran zu arbeiten, eine linke Mehrheit zu bilden.« Denn mit der Union ließen sich Projekte wie eine Bürgerversicherung nicht realisieren. Döring gratuliert ausdrücklich der Linken zu ihrem Wahlerfolg und wirbt auch für künftige Gespräche in diese Richtung.
Auch im neuen Bundestag wird es freilich keine linke Mehrheit geben - will Döring nun also Opposition aus einer möglichen künftigen Regierung heraus machen? Das sei nicht der Fall, »aber in den nächsten zehn, 15 Jahren wird uns kaum jemand wählen, wenn wir nur die Aussicht auf Opposition oder als Junior-Partner haben«.
Merz will bis spätestens Ostern eine Regierung bilden, die Aufgaben drängen. »Je zügiger, desto besser«, sagt Döring, »aber man muss sich auch die nötige Zeit nehmen«. Er erwartet, »dass wir auf allen Seiten schwere Kompromisse werden machen müssen«. Angesichts großer finanzieller Herausforderungen steht für ihn fest: »Die Schuldenbremse wird fallen.«
Unter den Gießener Direktkandidaten, die es über die Liste nach Berlin schaffen, ist auch AfD-Mann Robin Jünger. Er hatte am Sonntag zwar keinen Geburtstag zu feiern, dafür aber das gute Abschneiden seiner Partei - und tritt nun aus dem Schatten des Pohlheimer AfD-Abgeordneten Uwe Schulz, als dessen Referent er bislang tätig war. Auffällig ist, dass - wie in vielen Wahlkreisen - auch im Gießener das Zweitstimmenergebnis der AfD sehr nah am Wert ihres Direktkandidaten liegt. Ist es AfD-Wählern egal, welches Personal antritt? »Die Menschen entscheiden sich für die AfD und den Kandidaten«, sagt Jünger und will die These nicht bestätigen. Seinem Eindruck nach hätte die AfD im Wahlkreis auch 25 Prozent und mehr holen können. Das hätten Gespräche im Wahlkampf gezeigt, auch mit »normaler Zivilbevölkerung«; mit »Menschen, die nicht aus der eigenen Blase kommen«.
Die in Teilen als gesichert rechtsextrem geltende Partei stünde für eine Koalition mit der Union bereit, doch CDU und CSU schließen das aus. Wie wird die AfD nun womöglich anstehende Sondierungsgespräche und auch eine mögliche Koalition zwischen Union und SPD verfolgen? »Mit einer Tüte Popcorn«, sagt Jünger und lacht. »Das wird nicht funktionieren: Entweder belügt die CDU ihre Wähler«, oder die SPD müsse für sie eigentlich unhaltbare Positionen mittragen, vermutet der 28-Jährige. Auch wenn man das bei der CDU ganz anders sieht: Zwischen der AfD und ihr gebe es »die größten Schnittmengen - das weiß auch Herr Merz«. CDU-Mitglieder an der Basis hielten nichts von der »Brandmauer-Politik«, behauptet Jünger. Gerade auf kommunaler Ebene gebe es »viele Kontakte«.
Bereits am Montagabend haben sich laut Jünger die hessischen AfD-Abgeordneten des neuen Bundestages getroffen. Sie bringen sich in Stellung. »Es ist abzusehen, dass das nicht lange gut geht«, sagt Jünger mit Blick auf Schwarz-Rot - und wartet am Spielfeldrand auf ein Rechtsbündnis, das es so schnell wohl nicht geben wird.
Info: Politische Schwerpunkte
Noch ist nicht klar, welchen Ausschüssen die aus dem Gießener Land stammenden Bundestagsabgeordneten künftig angehören werden, doch es gibt Präferenzen.
Felix Döring (SPD) kann sich gut vorstellen, einen Schwerpunkt erneut auf Haushalts- und Familienpolitik zu setzen.
Robin Jünger (AfD) will sich vor allem um »digitale Agenda«, gefolgt von Bildung und Wirtschaft kümmern. jwr